Sie nahmen sich ihre Geistlichen zu Herren

Zu Zeiten Ibrahims (as) und Ismails (as) gehörten die Menschen in Mekka dem Tauhid-Glauben an. Nach dem Tod Ismails (as) vergaßen die Menschen allmählich, was ihnen die Gesandten lehrten. Schließlich verließen sie den Weg der Offenbarung und folgten Personen, die ihrer Auffassung nach zu den Rechtschaffenen gehörten, so sehr, dass sie deren Aussagen und Taten, ohne jegliche Hinterfragung und Einforderung von Beweisen, als Reli­gion anerkannten und sich dem unterwarfen.

Natürlich waren diese Menschen, die sie als Rechtschaffene ansahen, nicht frei von Fehlern, denn sie standen nicht unter der Kontrolle der Offenbarung. Sie waren ganz normale Menschen und keinesfalls unfehlbar. Ihre Anhänger verdrängten diese Tatsache nicht nur vollkommen, sie sprachen ihnen sogar, wie bei Gesandten und Propheten, eine generelle Unschuld (Sündenlosigkeit) zu und unterwarfen sich ihren Taten und Aussagen, so wie es nur Propheten gebührt.

Ein Paradebeispiel dafür ist Amr bin Luhay, der als erster die Götzen und den Götzendienst in Mekka einführte. Anfänglich war er ein aufrichtiger, frommer und rechtschaffener Mensch, so dass die Menschen ihn schätzten und ihm folgten. Eines Tages, als er ihnen aus Damaskus die ersten Götzen mitbrachte, nahmen sie sie an, ohne zu hinterfragen, ob dies mit dem Tauhid vereinbar ist. Sie fingen an, diesen Götzen zu dienen, im Glauben daran, sich dadurch Allah (swt) zu nähern.

Als Amr bin Luhay diese Götzen nach Mekka brachte, tat er dies in aufrichtiger Absicht, den Menschen dadurch etwas Gutes zu tun. Zusätzlich führte er auch bestimmte Rituale ein, welche angeblich dazu dienten, die Menschen Allah (swt) näher zu bringen. Dies war auch der Grund dafür, warum das Volk von Nuh (as) in den Schirk abirrte.

Nachdem Ibn Abbas (ra) den Qur’an-Vers: »Und die Führenden unter den Muschrikun sagten zu ihren Anhängern: ›Hört bloß nicht auf, eure Götter anzubeten! Gebt eure Götzen Wadd, Suwa’a, Ya’uth, Ya’uq, Nasra bloß nicht auf!‹«[1] rezitierte, sagte er:

»Diese waren Namen rechtschaffener Männer vom Volke Nuhs. Nach dem Tod dieser Personen zeichneten ihre Anhänger Bilder von ihnen, in der Hoffnung, durch die Betrachtung dieser Bilder mit einem noch größeren Eifer Allah (swt) zu dienen. Später formten sie ihre Statuen und benannten diese nach ihnen. Mit der Zeit vergaßen sie ihre eigentliche Religion und begannen, diesen Statuen zu dienen.«[2]

Obwohl der Qur’an und die Sunna zurzeit präsent sind und bis zum Jüngsten Tag bestehen werden, unterwerfen sich immer noch viele Menschen, die von sich behaupten, Muslime zu sein, blind den Worten von Personen, die sie als Gelehrte ansehen. Sie hinterfragen nicht, ob das mit dem Islam überhaupt vereinbar ist oder nicht, und sprechen zudem diesen sogenannten Gelehrten eine grundsätzliche Unschuld zu, was jedoch nur eine Eigenschaft von Gesandten ist. Ihre Religion ist deswegen eng mit der Religion dieser Personen verbunden – irren diese, so irren sie selbst; sind diese auf dem rechten Weg, so sind sie es auch. Wohingegen jeder Muslim bei jeder Fatwa eines Gelehrten nach des­sen Beweisen fragen muss, denn nur so kann er sich vor dem Irregehen schützen und seine Religion bewahren. Aber auch der Gelehrte selbst liefert schon von sich aus die Beweise für seine Fatwa. Denn ein Gelehrter ist nur jener, der die Beweise kennt.

Die hochgeschätzten Gelehrten der bekannten vier Rechtschulen haben bei all ihren Fatwas gleich die Beweise dazu mitgeliefert. Zudem riefen sie die Menschen auf: »Wenn ihr einen Hadith findet, der meiner Ansicht widerspricht, dann nehmt diesen Hadith an und verwerft meine Ansicht.« Aus diesem Grund änderten sie sogar einige ihrer Ansichten, wenn sie diesbezüglich einen neuen Hadith fanden.

Da Satan weiß, dass er den Qur’an und die Sunna keinesfalls verändern und die Menschen, die sich an deren Beweise festhalten, nicht in die Irre führen kann, versucht er sie mit all seiner Macht an Personen, die sich selbst nicht an den Qur’an und die Sunna halten, zu binden, denn nur dann kann er sie mit Leichtigkeit täuschen. Mit dieser Methode und der Hilfe der falschen Gelehrten haben die Taghut den Islam aus dem täglichen Leben verdrängt. Sie haben aus ihren Reihen falsche Gelehrte auserko­ren und sie künstlich so weit aufgeblasen, wie nur möglich, und diese den Menschen als große Gelehrte, großartige Persönlich­keiten, als Heilige vorgestellt. Nachdem die Menschen diese Personen als Gelehrte und Heilige anerkannten, war es nun für die Taghut ein Leichtes, ihre Irrlehren zu verbreiten.

Wir leben heute in einer Zeit, in der diese angeblichen Gelehrten und Imame ihre Aussagen und Fatwas kaum noch mit Beweisen belegen können. Auch wird es als eine große Unverschämtheit angesehen, wenn man sie nach Beweisen für ihre Fatwa fragt. Folglich wurde es immer einfacher, ein Gelehrter zu werden, sodass ihre Anzahl extrem angestiegen ist.

Um die Menschen daran zu hindern, dass sie ihnen unangenehme Fragen stellen, sagen sie ihnen:

»Ihr gehört dem einfachen Volk an, ihr seid keine Gelehrten. Ihr könnt die Beweise nicht verstehen. Euer Glaube ist ein nachgeahmter Glaube, deswegen müsst ihr den Worten eurer Gelehrten folgen und dürft diese nicht hinterfragen.«

Der »nachgeahmte Glaube«, von dem die großen Islam-Gelehrten sprachen, ist keinesfalls das, wofür diese Personen es missbrauchen. Denn wenn die großen Islam-Gelehrten sagten: »Der Glaube eines Menschen, der auf der Nachahmung beruht, ist gültig«, meinten sie damit den Zustand einer Person, die selbst trotz intensiver Nachforschung keine Beweise finden kann, oder nicht in der Lage ist, die vorhandenen Beweise zu verstehen, und deswegen den Glauben eines aufrichtigen Gelehrten nachahmt.

Der nachgeahmte Glaube gilt vor Allah (swt) nur dann als entschuldigt, wenn man zuvor alles in der Macht Stehende unternommen hat, um die entsprechenden Beweise zu finden. Der nachgeahmte Glaube von einem Menschen, der es unterlässt nachzuforschen, obwohl er eigentlich die Kraft und Möglichkeit dazu hat, ist nur dann gültig, wenn dieser Glaube mit dem Qur’an und der Sunna übereinstimmt. Aber er wird zu einem Sünder, weil er trotz Möglichkeit, das Erlernen der Beweise bewusst unterlässt. Doch sollte er mit seinem nachgeahmten Glauben falsch liegen, dann werden weder sein Glaube ak­zeptiert noch seine Entschuldigung angenommen noch wird der »Gelehrte«, den er nachgeahmt hat, ihn vor dem Höllenfeuer bewahren können.

Allah (swt) hat im Qur’an und in der Sunna den Glauben auf eine offene und klare Art und Weise dargelegt, sodass jeder mit Verstand in der Lage ist, ihn grundsätzlich zu verstehen. Das ist weder eine geheime noch eine schwer zu verstehende Angelegenheit. Selbstverständ­lich kann man nicht erwarten, dass man jeden einzelnen Beweis auswendig kennt. Auch gibt es bestimmte tiefer gehende Punkte, die nicht jeder verstehen kann, ihre Auslegung ist die Aufgabe der Gelehrten. Hierbei ist jeder nur entsprechend seiner Fähigkeiten verantwortlich.

Heutzutage ist der Glaube von den meisten Menschen, die sich blind und ohne jegliche Hinterfragung angeblichen Gelehrten binden, voll bespickt mit Irrgedanken und Irrglauben, die dem Islam widersprechen und den Glauben zerstören. Auf diese Weise hat sich der Schirk unter ihnen verbreitet, ohne dass sie es bemerkten. Diese Unwissenden, die es nicht für notwendig erachten, sich den wahren Quellen zuzuwenden, glauben immer noch, Muslime zu sein und sich auf dem rechten Weg zu befinden, obwohl sie den Islam schon längst verlassen haben. So, wie einst die arabischen Muschrikin die Religion Ibrahims verlassen hatten, als sie die Götzen verehrten, die Amr bin Luhay aus Damaskus mitge­bracht hatte.

Selbstverständlich gibt es im Islam aufrichtige Gelehrte, die zweifelsohne Respekt und Anerkennung verdienen. Doch darf es nicht zu einer Verehrung ausarten, die einen dazu verleitet, allem, was sie bringen, blind zu folgen. Wie bereits erwähnt, ist ohnehin nur jener ein Gelehrter, der alles, was er vorbringt, von sich aus mit Beweisen aus Qur’an und Sunna belegt. Ansonsten könnte sich jeder als Gelehrter bezeichnen, was heutzutage leider der Fall ist.  Demzufolge ist es erforderlich, bei allen Glaubensangelegenheiten und Aussagen bezüglich des Islams zu überprüfen, ob diese auf Qur’an und Sunna basieren. Nur dann können wir uns vor Irrwegen schützen und die wahre Religion bewahren. Wir müssen bei jeder Fatwa die Beweise hinterfragen, ganz gleich, von welchem Gelehrten sie auch kommt. Denn Allah (swt) verlangt von uns, dass wir uns nur der von Ihm stammenden Wahrheit unterwerfen:

»(O ihr Menschen!) Folgt dem (Qur’an und der Sunnah), was von eurem Herrn zu euch (mittels Seines Gesandten Muhammad) herabgesandt wurde (richtet euer Leben nach den Urteilen dieser beiden Quellen). Nehmt euch keine nahen Freunde außer Allah (ob von den Menschen oder Dschinn) und folgt ihnen nicht Allah widersprechend (indem ihr ihnen die Entscheidungsgewalt gebt). (O ihr Muschrikun!) Wie wenig ihr euch ermahnen lasst. (Hättet ihr euch ermahnen lassen, wäret ihr dem gefolgt, was Unserem Gesandten Muhammad offenbart wurde und hättet von allem abgelassen, was diesem widerspricht)[3]

Auch kritisiert Allah (swt) die Juden und Christen, weil diese sich blind ihren Gelehrten unterwerfen. Er verkündet, dass sie damit Allah (swt) verleumden und zu Kuffar werden:

»Die Juden haben ihre Rabbiner (Gelehrte) und die Christen ihre Priester statt Allah zu Herren genommen (indem sie ihnen gehorchten, wenn sie die Verbote Allahs erlaubten oder die Erlaubnisse Allahs verboten). Die Christen haben auch (Jesus) den Messias, den Sohn der Maria zum Gott genommen. Obwohl ihnen von Allah (und von allen Gesandten, einschließlich Jesus) befohlen wurde, nur Allah, Dem Einzigen zu dienen und außer Ihm nichts anzubeten. Es gibt keinen anbetungswürdigen Gott außer Ihm. Er ist fern von dem, was sie Ihm beigesellen (sowie von allen Mangelhaftigkeiten, nichts ist Ihm in irgendeiner Hinsicht gleich, Er ist in Seinem Wesen, Seinen Taten und Seinen Eigenschaften einzig und nur Ihm gebührt die Anbetung)[4]

Zweifellos haben wir dringend Bedarf an wahren Gelehrten. Denn die meisten Menschen sind nicht in der Lage, aus Qur’an und Sunna selbstständig Urteile abzuleiten, weil sie keine Kenntnisse in Arabisch, Qur’an-Wissenschaften, in Nasikh-Mansukh sowie in islamischen Rechts- und Hadith-Wissenschaften haben. Die Gelehrten jedoch haben Kenntnisse in all diesen Bereichen, sodass sie in der Lage sind, aus bestimmten Versen und Hadithen, die viele nicht verstehen, Urteile zu bestimmen. Die Aufgabe der Gelehrten liegt darin, solche Verse und Hadithe, die nicht von jedem zu verstehen sind, zu erörtern. Folglich müssen die Men­schen den Urteilen der Gelehrten folgen. Doch diese Art der Befolgung darf keineswegs mit der blinden und hinterfragungslosen Unterwerfung verwechselt werden, da Letzteres eine äußerst ge­fährliche Angelegenheit und eine von den wahren Gelehrten keinesfalls erwünschte Handlung ist.

Der islamische Verkünder sollte folgendes wissen: Die Taghut manipulieren mit Hilfe ihrer eigenen Gelehrten den Glauben, die Ibada-Arten und die Begriffe des Islams und wollen dadurch den Islam auf der Welt vernichten. Deshalb müssen die Muslime all ihre Handlungen, Aussagen und Gedanken in Kenntnis ihrer Beweise verrichten, um so die boshaften Pläne der Kuffar enthüllen und bekämpfen zu können.


[1] Nuh: 23

[2] Buchari

[3]  al-A’raf: 3

[4]  at-Tauba: 31